Der heutige Beitrag beantwortet die Fragen was seltene Krankheiten im Allgemeinen sind, in welchen medizinischen Fachgebieten sie auftreten, wieviel Menschen davon betroffen sind und die Anzahl der Medikamente, die mittlerweile verfügbar sind.
Definition und Kennzeichen
Diese Sammelbezeichnung steht für viele verschiedene Erkrankungen, die sich kein einheitliches Krankheitsbild teilen.1,2 Gemeinsam ist diesen Multisystemerkrankungen, dass sie chronisch, progressiv, degenerativ und lebensbedrohlich sind.2 Die Lebensqualität wird meist eingeschränkt und es gibt keine wirksame Heilung.2
In Europa gilt eine Krankheit als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Patienten daran leiden.1 Durch die mangelnde Aufklärung der Ursache und des Verlaufs der Erkrankungen erhalten 40% aller Patienten eine Fehldiagnose und somit keine wirksame Therapie.3 Durchschnittlich dauert es fünf Jahre, bis eine korrekte Diagnose gestellt wird.3
Weltweit sind rund 8.000 seltene Krankheiten bekannt.3 Durch fortschreitende Erkenntnisse in der menschlichen Genetik steigt die Anzahl neuer seltener Krankheiten jedoch jährlich.4,5
Ursachen
Bei 8 von 10 seltenen Krankheiten ist ein Gendefekt der Hauptauslöser oder zumindest ein Mitauslöser.1,5,6 Durch die genetischen Anomalien wird hierbei eine ganze Kaskade von Beschwerden ausgelöst, wodurch sich der Ursprung nur schwer feststellen lässt.3 Mittlerweile liegen jedoch eindeutige Zuordnungsmerkmale für 6.084 seltene Erkrankungen vor, die mit rund 4.000 Genen in Verbindung gebracht werden (Stand 2016).5 Seltene Krankheiten können ebenso durch Infektionen oder Umwelteinflüsse entstehen, oft ist es auch ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren.6
Medizinische Gebiete
Seltene Krankheiten treten unter anderem in folgenden medizinischen Fachgebieten auf:
- Krebs: Akute lymphatische Leukämie,4 Nierenzellkrebs,7 Leberzellkrebs,7 Nebennierenrindenkarzinom7
- Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Lungenhochdruck1
- Stoffwechselerkrankungen: Mukoviszidose, Phenylketonurie, Morbus Fabry4
- Neurologische Erkrankungen: Kinderdemenz1, Narkolepsie7
- Infektionskrankheiten: Tuberkulose4
- Autoimmunerkrankungen: Lupus, Sjörgen-Syndrom
Ausgewählte Beispiele für seltene Krankheiten
Ein Beispiel für eine seltene Krankheit mit 185.000 Betroffenen in Europa ist die Narkolepsie mit Kataplexie bei Erwachsenen.7 Darunter wird eine lebenslang andauernde neurologische Erkrankung verstanden, bei der der Schlaf-Wach-Rhythmus gestört ist.8 Aus diesem Grund wird sie auch als Schlafkrankheit bezeichnet.8 Eines der Symptome ist Katalepsie, bei der die Patienten unter kurzen Episoden von Muskelversagen leiden, zum Beispiel einem Erschlaffen der Gesichtsmuskeln oder einem vollständigen Zusammensacken des ganzen Körperes.9 Im Unterschied zur Epilepsie sind hier die Betroffenen bei vollem Bewusstsein.9 Die Ursache ist hierfür ein Zusammenspiel aus genetischen Veranlagungen und Umwelteinflüssen.10 Neueste Studien deckten auf, dass bei Narkolepsie-Patienten ein Mangel des Botenstoffes Hypcretin vorliegt.10 Dieser gibt Signale unterhalb der Nervenzellen weiter und ist bei der Regulation von Schlaf- und Wachphasen beteiligt.10 Es wird vermutet, dass durch eine Fehlregulation der Immunantwort die Zellen zerstört werden, die den Neurotransmitter produzieren.10 Narkolepsie tritt bei 4 von 10.000 Menschen auf.11
Ein weiteres Beispiel ist die Akromegalie,7 auch Riesenwuchs genannt,12 bei der sich das äußere Erscheinungsbild, der Stoffwechsel und die inneren Organe verändern.13 Auslöser dafür ist ein in der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) sitzender Tumor, der eine Überproduktion von Wachstumshormonen verursacht.12,13 Durch die Stimulation von IGF-1 in der Leber wird das Wachstum von Knorpel, Knochen, Muskeln und Bindegewebe gefördert.13 Dies führt unter anderem zu einer Vergrößerung von Händen, Füßen und Zunge sowie zu einer Vergröberung der Gesichtszüge.13
Epidemiologie
Weltweit sind 410 Millionen Menschen von seltenen Krankheiten betroffen.6 Davon leben allein in Europa 30 Millionen Menschen,5,6 was 6-7% der europäischen Bevölkerung entspricht.4 Mindestens die Hälfte aller Betroffenen sind Kinder,1,2,5 wovon 30% bereits vor dem 5.Lebensjahr sterben.2
Vorkommen von seltenen und häufigen Krankheiten im Vergleich1
Medikamente für seltene Krankheiten
Lange Zeit wurde auf dem Gebiet der seltenen Krankheiten nicht geforscht, weswegen sie auch als verwaiste Krankheiten (Orphan Diseases) bezeichnet werden, die Medikamente zur Behandlung entsprechend als Orphan Drugs.1
Herausforderungen bei der Entwicklung
Um wirksame Medikamente gegen bestimmte Krankheiten entwickeln zu können, ist es notwendig, alle damit verbundenen molekularen Krankheitsprozesse genau zu verstehen.1 Ein Kennzeichen seltener Erkrankungen ist jedoch ein Mangel an Kenntnissen über deren Entstehung und Verlauf.1 Somit ist auf diesem Feld vorrangig Grundlagenforschung notwendig, um darauf aufbauend geeignete Medikamente finden und herstellen zu können.1 Weiterhin ist eine Wirkstofferprobung in klinischen Studien schwierig, da aufgrund der Seltenheit der Erkrankung oft nicht genügend Patienten für die Studie gefunden werden können. 1 Zusätzlich erschwert wird dieser Prozess dadurch, dass viele Menschen wegen mangelnder Kenntnisse der behandelnden Ärzte nicht wissen, dass sie an dieser speziellen Erkrankung leiden.1
Status
Damit ein Medikament den Orphan Drug Status erlangt, muss die jeweilige Krankheit folgende Kennzeichen aufweisen:1
- Die Krankheit muss selten sein1
- Die Krankheit muss schwer sein, das heißt lebensbedrohlich oder zu chronischer Invalidität oder Behinderung führend.1
- Das Medikament muss einen Zusatznutzen aufweisen.1
Die Arzneimittelbehörde der EU (European Medicines Agency – EMA) entscheidet über die Vergabe des Status.1
Verordnung
Die Entwicklung von Medikamenten für seltene Erkrankungen ist wirtschaftlich riskant, da hier eine aufwändige Forschung, geringe Erfolgschancen und ein geringes Umsatzpotential aufeinandertreffen.1 Eine Verordnung, die 2000 in der EU eingeführt wurde und bereits seit 1983 in den USA gilt, soll dies verbessern.1 Die Orphan Drug Verordnung schützt ein zugelassenes Medikament für zehn Jahre vor Generika. Nachahmerpräparate, die sich in Zusammensetzung und Wirkungsweise nicht vom ursprünglichen Medikament unterscheiden werden demnach nicht für den Markt zugelassen, da ihre Wirkung keine Verbesserung gegenüber dem Ursprungspräparat aufweist.1
Fortschritte
Es werden bereits erhebliche Fortschritte auf diesem Gebiet verzeichnet. Ein Beispiel hierfür ist die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose. Hier hat sich das prognostizierte durschnittliche Überlebensalter eines Neugeborenen, durch den Einsatz von sogenannten CFTR-Modulatoren, von einem Jahr auf 50 Jahre erhöht.14
Aktueller Stand
In der Europäischen Union sind 158 Wirkstoffe für 131 seltene Krankheiten zugelassen (Stand 2019), wobei manche Wirkstoffe unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten finden.3,4 Den größten Anteil macht hierbei die Krebsbehandlung aus, gefolgt von Medikamenten für Stoffwechselerkrankungen.4
Fast die Hälfte dieser Medikamente wurde auch für Kinder zugelassen:1
In Deutschland sind 23 Medikamente für jene seltenen Krankheiten zugelassen, von denen national höchstens 1.000 Patienten betroffen sind.3 Insgesamt 93 Orphan Drugs wurden 2017 im ambulanten Bereich verschrieben,4 was etwa 3,7% der Gesamtausgaben für Medikamente seitens der gesetzlichen Krankenkassen ausmacht.1,3,4
Der Anteil der Orphan Drugs beträgt ca.33% der Medikamente mit neuem Wirkstoff, die zwischen 2014 und 2017 in Deutschland auf den Markt kamen, wobei diese Zahl im letzten Jahr aufgrund zunehmender Fokussierung der Forschung auf seltene Defekte sprunghaft anstieg.1,4
Somit hat sich auf diesem Feld in den letzten Jahren viel getan. Ein wichtiger Punkt war hierfür die Entschlüsselung des humanen Genoms 2003 im Rahmen des Human Genome Projects.4 Aktuell befinden sich 1.900 Wirkstoffe gegen seltene Krankheiten in der klinischen Entwicklung.3
Dass aber dennoch viel Bedarf an der Erforschung seltener Krankheiten besteht, zeigt der nächste Blogartikel.
Ansprechpartner:
Kristina Schraml (kristina.schraml@biovariance.com)